Die europäische Weinbranche befindet sich in einem historischen Wandel. Nach Jahrzehnten strenger Definitionen dessen, was rechtlich als „Wein“ bezeichnet werden darf, hat die Europäische Union einen bahnbrechenden Schritt unternommen, indem sie alkoholfreie Weine offiziell als eigenständige Weinkategorie anerkannt hat.
Dieser Beschluss, der am 5. November 2024 vom Landwirtschaftsausschuss des Europäischen Parlaments gebilligt wurde, markiert einen Wendepunkt in der Entwicklung des Weinsektors und spiegelt die sich wandelnden Verbraucherpräferenzen auf dem gesamten Kontinent wider.
Von der OIV-Unterstützung zur EU-rechtlichen Anerkennung
Der Weg zu dieser Anerkennung begann Anfang 2024, als die Internationale Organisation für Rebe und Wein (OIV) , die weltweit führende Autorität im Weinsektor, alkoholfreie Weine befürwortete. Die Unterstützung der OIV verlieh diesen Produkten entscheidende Legitimität und bestätigte, dass Wein seinen wesentlichen Charakter auch ohne Alkohol bewahren kann. Im November zog die EU mit der formellen rechtlichen Anerkennung nach und veränderte damit die regulatorischen Rahmenbedingungen für Weinproduzenten in ihren Mitgliedstaaten.
Dieser Übergang von internationaler Unterstützung zu einem regionalen Rechtsrahmen verdeutlicht eine koordinierte Reaktion auf die Marktentwicklung. Die wissenschaftliche und technische Unterstützung der OIV legte den Grundstein, während die EU-Gesetzgebung den praktischen Rahmen schafft, den Erzeuger benötigen, um innerhalb klarer und durchsetzbarer Regeln zu agieren.
Das Weinpaket: Umfassende Reform
Die neu verabschiedeten Regelungen sind Teil eines umfassenden „Weinpakets“, das drei grundlegende EU-Gesetze zur Weinproduktion und -vermarktung ändert. Der Landwirtschaftsausschuss des Europäischen Parlaments verabschiedete den Bericht mit überwältigender Mehrheit – 43 Ja-Stimmen, keine Nein-Stimmen und nur zwei Enthaltungen –, was einen breiten Konsens über die Notwendigkeit einer Reform signalisiert.
Das Gesetzespaket zielt auf drei zentrale Verordnungen ab: die Gemeinsame Organisation der Agrarmärkte (GOM), die Strategiepläne der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) und die Verordnung über aromatisierte Weinerzeugnisse. Diese Änderungen stellen die bedeutendste Modernisierung des EU-Weinrechts seit Jahren dar und sollen die vielfältigen Herausforderungen der Erzeuger bewältigen sowie neue Märkte und Verbrauchergruppen erschließen.
Neue Kennzeichnungsstandards: Mehr Klarheit für Verbraucher
Eine der wichtigsten praktischen Änderungen betrifft die Kennzeichnungsvorschriften, die Verbrauchern beispiellose Transparenz darüber bieten, was sie kaufen. Gemäß den neuen Bestimmungen dürfen Weine mit einem Alkoholgehalt von 0,05 % oder weniger vol. zusätzlich zur Angabe „0,0 %“ auch als „alkoholfrei“ gekennzeichnet werden. Diese doppelte Kennzeichnung stellt sicher, dass Verbraucher genau wissen, was sie kaufen, unabhängig davon, ob sie aus gesundheitlichen, religiösen oder persönlichen Gründen vollständig auf Alkohol verzichten.
Die Verordnung führt außerdem eine neue Kategorie ein: „Wein mit reduziertem Alkoholgehalt“. Produkte, die mindestens 30 % weniger Alkohol als der Standard ihrer Kategorie enthalten und einen Mindestalkoholgehalt von 0,5 % aufweisen, dürfen diese Bezeichnung tragen. Diese Zwischenkategorie trägt dem Umstand Rechnung, dass viele Verbraucher ihren Alkoholkonsum eher reduzieren als vollständig darauf verzichten möchten. Dies spiegelt die zunehmende Bewegung des „bewussten Trinkens“ wider, die in Europa und darüber hinaus immer mehr an Bedeutung gewinnt.
Diese Klarstellungen zur Kennzeichnung erfüllen einen doppelten Zweck. Sie bieten Verbrauchern die nötige Transparenz, um fundierte Entscheidungen im Einklang mit ihrem Lebensstil und ihren Vorlieben zu treffen. Herstellern ermöglichen sie, Produkte flexibel an die sich wandelnde Nachfrage anzupassen, ohne in regulatorische Grauzonen zu geraten, die rechtliche Probleme oder Verwirrung bei den Verbrauchern verursachen könnten.
Auf die Realitäten des Marktes reagieren
Das Weinpaket entstand nicht im luftleeren Raum. Es stellt eine direkte Reaktion auf die Empfehlungen der hochrangigen Arbeitsgruppe für Weinpolitik dar, die die Europäische Kommission am 28. März 2024 vorlegte. Diese Empfehlungen basierten auf umfassenden Konsultationen mit Branchenvertretern, Verbrauchergruppen und Marktanalysten, die entscheidende Trends identifizierten, welche den Weinsektor grundlegend verändern.
Drei Hauptziele leiten diese Reformen. Erstens die Anpassung der Weinproduktion an die aktuellen Nachfragemuster, insbesondere an das wachsende Interesse an alkoholarmen und alkoholfreien Alternativen. Zweitens die Stärkung der Widerstandsfähigkeit des Sektors gegenüber Marktschwankungen und den Auswirkungen des Klimawandels, die den Weinbau in ganz Europa zunehmend beeinträchtigen. Drittens die Unterstützung der Erzeuger bei der Nutzung neuer Geschäftsmöglichkeiten, insbesondere in Märkten, in denen der traditionelle Weinkonsum durch kulturelle oder religiöse Faktoren eingeschränkt sein kann.
Der Zeitpunkt ist besonders relevant, da europäische Weinproduzenten vor wachsenden Herausforderungen stehen. In traditionellen Weinkonsumländern sinkt der Pro-Kopf-Verbrauch, insbesondere bei jüngeren Generationen. Gleichzeitig zwingt der Klimawandel die Produzenten, ihre Anbaumethoden anzupassen, was mitunter zu Trauben mit höherem natürlichem Zuckergehalt und damit zu Weinen mit höherem Alkoholgehalt führt. Alkoholfreie und alkoholreduzierte Weine bieten Lösungen für beide Herausforderungen: Sie bieten gesundheitsbewussten Konsumenten Alternativen und eröffnen den Produzenten zusätzliche Absatzmöglichkeiten für ihre Trauben.
Der Weg nach vorn: Vom Ausschuss zum Gesetz
Die Zustimmung des Landwirtschaftsausschusses stellt zwar einen wichtigen Meilenstein dar, doch der Gesetzgebungsprozess ist noch nicht abgeschlossen. Der Ausschuss hat Verhandlungen mit den EU-Mitgliedstaaten aufgenommen, um die Gesetzgebung abzuschließen. Das Verhandlungsmandat wird formell in der Plenarsitzung am 12. und 13. November 2024 bekannt gegeben.
Wenn das Plenum dem Mandat wie erwartet zustimmt, ist das erste Trilogtreffen zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Europäischen Kommission für den 4. Dezember 2024 geplant. In diesen Verhandlungen sollen die verbleibenden technischen Details geklärt und sichergestellt werden, dass alle Mitgliedstaaten die neuen Regeln effektiv in ihre bestehenden Rechtsrahmen einbringen können.
Der Gesetzgebungsprozess entspricht dem EU-Standardvorgehen bei wichtigen politischen Änderungen: Erzielung eines Konsenses durch umfassende Konsultationen, Ausschussprüfung und interinstitutionelle Verhandlungen. Dieses überlegte Vorgehen trägt dazu bei, dass die endgültigen Regelungen sowohl praktikabel als auch in den verschiedenen Weinbauregionen der 27 EU-Mitgliedstaaten umsetzbar sind.
Auswirkungen für Produzenten und die Branche
Für Weinproduzenten eröffnen diese neuen Bestimmungen bedeutende Chancen. Der globale Markt für alkoholfreie Getränke expandiert rasant, wobei alkoholfreier Wein zu den am schnellsten wachsenden Segmenten zählt. Allerdings sahen sich die Produzenten bei der Vermarktung dieser Produkte häufig mit regulatorischen Hürden konfrontiert, insbesondere hinsichtlich der Frage, ob sie die Bezeichnung „Wein“ überhaupt rechtmäßig verwenden dürfen.
Die Anerkennung durch die EU beseitigt diese Unklarheit auf dem europäischen Markt und ermöglicht es den Produzenten, mit Zuversicht in die Produktion und Vermarktung alkoholfreier Weine zu investieren. Dies ist besonders wichtig für bedeutende Weinbaunationen wie Frankreich, Italien und Spanien, wo Produzenten nun alkoholfreie Varianten ihrer traditionellen Weine entwickeln können, ohne befürchten zu müssen, dass regulatorische Definitionen ihre Marktposition schwächen.
Die neuen Regeln schaffen gleiche Wettbewerbsbedingungen. Zuvor verfolgten die einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedliche Ansätze in Bezug auf alkoholfreien Wein, was zu einem Flickenteppich an Regelungen führte und den grenzüberschreitenden Handel im Binnenmarkt erschwerte. Harmonisierte EU-weite Standards beseitigen diese Hindernisse und erleichtern es den Herstellern, ihre Produktion auszuweiten, und den Einzelhändlern, alkoholfreie Weine aus ganz Europa anzubieten.
Ein umfassenderer Kulturwandel
Über die regulatorischen und wirtschaftlichen Folgen hinaus spiegelt die Entscheidung der EU einen umfassenderen kulturellen Wandel im europäischen Weinverständnis wider. Traditionell war Wein eng mit seinem Alkoholgehalt verbunden – die Gärung, bei der der Zucker der Trauben in Alkohol umgewandelt wird, galt als wesentlich für die Identität des Weins. Die Anerkennung alkoholfreier Weine als legitime Weine bedeutet, dass Wein im Kern die Traube, das Terroir und die Kunst der Weinherstellung ausmacht, nicht allein der enthaltene Alkohol.
Dieser philosophische Wandel spiegelt den allgemeinen Wandel der Einstellung zum Alkoholkonsum wider. Gesundheitsbewusstsein, die Sorge um Alkohol am Steuer und generationsbedingte Präferenzen treiben die Nachfrage nach anspruchsvollen alkoholfreien Alternativen zu traditionellen alkoholischen Getränken an. Indem Weinproduzenten diese Produkte anbieten, stellen sie sicher, dass ihre Branche den sich wandelnden Verbraucherwerten gerecht wird und gleichzeitig ihr jahrhundertealtes Fachwissen im Weinbau und in der Weinherstellung bewahrt.
Blick in die Zukunft
Mit der bevorstehenden Verabschiedung dieser EU-Verordnungen steht die Weinbranche am Beginn einer neuen Ära. Alkoholfreie und alkoholreduzierte Weine werden neben traditionellen Weinen als anerkannte Kategorien etabliert und bedienen jeweils unterschiedliche Verbraucherbedürfnisse und Anlässe. Produzenten erhalten klare Richtlinien für Produktion und Vermarktung, während Verbraucher von einer transparenten Kennzeichnung profitieren, die ihnen eine informierte Kaufentscheidung ermöglicht.
Der Erfolg dieser Initiative könnte weit über Europa hinaus positive Auswirkungen haben. Als eine der weltweit größten Weinbauregionen prägt der Regulierungsansatz der EU häufig internationale Standards. Andere Weinbaunationen könnten den EU-Rahmen als Vorbild für ihre eigenen Vorschriften nehmen, was potenziell zu einer stärkeren globalen Harmonisierung bei der Definition, Herstellung und Vermarktung alkoholfreier Weine führen könnte.
Die Entscheidung des Europäischen Parlaments ist mehr als nur eine Aktualisierung der Vorschriften – sie ist die Anerkennung, dass sich die Weinkultur weiterentwickeln kann, ohne ihren Kern zu verlieren. Indem die EU Innovationen fördert und auf die Bedürfnisse der Verbraucher eingeht, trägt sie dazu bei, dass europäischer Wein in einer sich wandelnden Welt wettbewerbsfähig, relevant und geschätzt bleibt.
Quelle: Vinetur